"Das Deutsche
Notstandsschwein"

Notwendige Erklärung
zu einem
kulturpolitisch
brisanten Vieh.

I. Zum allgemeinen
Problem

Jede Hervorbringung der bildenden Kunst kann unter zwei verschiedenen Aspekten betrachtet und beurteilt werden, auch wenn beide im Grunde eine unauflösliche Einheit bilden: Die formale Gestaltung auf der einen Seite und die inhaltliche Aussage auf der anderen. So abstrakt und unzureichend diesen vordergründige Trennung auch sein mag:  gegenüber einer in den Dingen der Kulturproduktion von keiner gründlicheren Kenntnis getrübten Staatsanwaltschaft muß dieser Nachhilfeunterricht in Dingen Kunst leider noch einmal vorexerziert werden.
Gleichgültig ob es sich um ein Werk der Bildenden Kunst um ein Plakat, eine Illustration, einen Buchumschlag, ein Foto oder etwas ähnliches handelt: Jede bildnerische Darstellung, die es erklärtermaßen auf eine Aussage, eine Information, eine Mitteilung an den Betrachter abgesehen hat, muß sich irgendwelcher formalen Mittel, Symbole, Zeichen, Figuren, optischer Hinweise bedienen, die auf den Inhalt der Mitteilung einen direkten oder versteckten Bezug nahmen - je nach Tendenz und Zielsetzung der Mitteilung. Das heißt: Die formalen Mittel der Darstellung stehen für den Gegenstand des Bildes ein.




Ein Portrait von Herrn X. ist nicht Herr X. - es bedeutet ihn; oder zumeist noch genauer: Es stellt einen Aspekt von Herrn X dar, gesehen durch die Brille des Malers.

Der Maler äußert im Bild seine Einschätzung des Herrn X. Ob sie zutreffend oder willkürlich ist, das ist zunächst einmal für die Frage nach der Be-deutung des Bildes als Kunstwerk verhältnismäßig unerheblich.



Der Unterschied zwischen dem Portrait des Herrn X. im Range eines Kunstwerks und dem Portrait des gleichen Herrn als plattes Kitschbild oder nichtssagendes Konsumprodukt wird durch die inhaltliche und formale Frage beantwortet, ob in dem Portrait mehr als nur der platte Abklatsch irgendeiner Physiognomie geleistet wird, wie weit und wie vielschichtig das Bild des betreffenden Herrn eine verallgemeinerbare Haltung, Mensch-lichkeit, Erfahrung, Gesinnung oder Monstrosität, ein verallgemeiner-bares Schicksal aufreißt. Verallgemeinerbar bedeutet im Hinblick auf die Kulturproduktion nicht, ob das dargestellte Schicksal oder der for-mulierte Tatbestand quantitativ allgemeinverbindlich ist, sondern viel-mehr, wie weit die Aussage qualitativ typisch ist auch für eine Mino-rität menschlicher Existenz und Erfahrung. Entscheidend für die Frage nach dem "Kunstwert" einer kulturellen Hervorbringung ist gleichfalls die Frage, wie weit es dem Produkt gelingt aufzuzeigen was ist und welche Konsequenzen und Perspektiven in dem, was das ist liegen - im...


III. Nun zum "Deutschen Notstandsschwein"
selbst:

Das Thema
des Tierchens
ist bekannt.

Die Bundesregierung plante und verabschiedete im Jahr 1968 die sogenannten Notstandsgesetze unter dem Vorwand, in Fall X die Demokratie in unserem Land schützen zu müssen, während diese Gesetze ganz offen­sichtlich ihrem Inhalt danach dazu bestimmt sind, in Fall X die Demo­kratie in unserem Land abzuschaffen und für den kalten Staatsstreich von oben die legalen Voraussetzungen zu liefern. Diese Gesetze wurden laut Meinungsumfragen von über 60% der Bevölkerung der BRD abgelehnt. Sie wurden dennoch verabschiedet. Obgleich nie als innenpolitisches Instrument zur Bewältigung eines möglichen Ost-West-Konfliktes aus­gegeben wurden (woran niemand so recht glauben konnte) bezweifelt heute

kein politisch interessierter Bürger - ob NPD-Mitglied oder Kommunist - daß die NS-Gesetze ausschließlich zu dem Zweck verabschiedet wurden, um bei passender Gelegenheit in der Bundesrepublik "griechische Zu­stände" installieren zu können.


Die Bundesrepublik unterhält seit Jahren mehr als nur freund­schaftliche Beziehungen zu faschistischen Staaten und Militärdiktaturen, wie Korea, Südvietnam, Spanien, Griechenland, Portugal, Brasilien, den nordamerikanischen Bananenrepubliken, der Südafrikanischen Union, Rhodesien und anderen. Sie unterstützt die genannten Länder offen oder verhüllt militärisch, wirtschaftlich und politisch. Der Bundesregierung ist bekannt, daß in diesen Ländern tausende von politischen Gegnern auf das Bestialischste gefoltert, verfolgt und ermordet werden.

Sie betreibt diesen Ländern gegenüber eine Politik, die zumindest als im hohen Grad faschistenfreundlich bezeichnet werden muß und die logischerweise Rückschlüsse auf ihre Absichten im eigenen Land zuläßt.

Ebenso wie die Bundesregierung gegen den erklärten Willen der Mehrheit unserer Bevölkerung die NS-Gesetzas verabschiedete, lehnt sie es gegen den Willen der gleichen Mehrheit unseres



Volkes ab, den Krieg der USA in Vietnam zu verurteilen oder die Hilfe für die erwähnten Diktaturen einzustellen. Das Attribut für eine solche Politik kann nur heißen: undemokratisch und präfaschstisch.

Es ist bekannt, daß hohe Funktionäre und Sympathisanten des Nazi-Regimes bis heute wichtige Punktionen und Ämter in Politik und Wirt-schaft der BRD innehaben. Es sei nur an so prominente Fälle wie Globke, Abs, Flick, Kiesinger und Lübke erinnert. Gegen den erklärten Willen der Mehrheit der bundesdeutschen Öffentlichkeit hat keine bisherige Bundesregierung und erst recht nicht die westdeutsche Wirtschaft es in ihrer Personalpolitik für nötig befunden,  auch nur den Anschein einer klaren Distanzierung zum tausendjährigen Reich zu vollziehen. "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch." (B.Brecht).

Es nimmt deshalb niemanden Wunder, wenn vom ersten Tage der adenauer-schen Kalten-Kriegs-Politik an Figuren wie Strauß, Barzel, Jäger, Lücke Gerstemeier und andere einen entscheidenden Einfluß

auf die westdeutsche Nachkriegspolitik gewinnen konnten. "Franz-Josef Strauß ist der kommende Mann. Er löst Adolf Hitler nicht ab, er ersetzt ihn auch nicht, er hat aber Führungsqualitäten. Die Presse muß hart an die Zügel genommen werden. Axel Cäsar Springer bereitet diese innere Ordnung vor. Er ist unser Mann auf diesem Sektor. Er braucht uns, wir brauchen ihn. "Bayern-kurier" und "National-Zeitung" bleiben unsere Hauptorgane, in ihnen wird die Richtung angegeben. Wir gehen in den Widerstand mit allen verfügbaren Mitteln, auch in der Wirtschaft. Wir müssen die Macht erzwingen, so oder so, auch dann, wenn die Wahl nicht nach unseren Vorstellungen ausfällt. Die Bundeswehr soll eine national ausgerich-tete Streitmacht werden. Das Offizierkorps wartet auf den starken Mann: Franz -Josef Strauß." Das ist keine Satire, Es stammt auch nicht von der NPD. Es stammt aus einem Rundschreiben des "CSU-Freundeskreis e.V.". Das "Deutsche Notstandsschwein“ ist heute so aktuell wie 1966. Es wird es  auch noch einige Jahre bleiben, ...


Zur formalen Gestaltung des "Deutschen Notstandsschwein":

1. Meine Mittel zur Darstellung irgendeines beliebigen Themas wie auch des Themas „NS -Gesetze - Neofaschismus in der BRD", sind weitgehend durch meine individuellen Fähigkeiten, meine ökonomischen Mittel, wie durch meinen Stil der Darstellung bestimmt, den ich mir im Lauf der Jahre erarbeitet habe und der mich bekannt gemacht hat. Ich verstehe nichts vom Film, dem Theater, der Literatur, der Musik und anderen Medien, um mich ihrer von heute auf morgen sicher bedienen zu können. Außerdem lasse ich mir von keinem Gericht meine Mittel und Medien vor-schreiben, auch nicht in der Weise, daß mir die Verwendung des einen oder anderen Motives oder Mittels untersagt wird und dieses Motiv oder Mittel zur Darstellung den gestellten Themas notwendig ist. Mein "Stil" besteht in der Assemblage, besser gesagt einer Art Pop-Montage mit stark gesellschaftskritischen Einschlag. Zuweilen bediene ich mich auch einer Art Weiterentwicklung des Ready-Mades, einer Methode, bei der Gegenstände der

Alltagswelt durch Eingriffe, Zusätze, Veränderungen verfremdet werden, um auf diese Weise ihren "ideologischen Gehalt" zu karikieren und aufzudecken. (vergl. Werksverzeichnis Nr. 92, 96, 103, 113, 116, 127, 128, 129).

Für mich als überzeugten Demokraten und Antifaschisten stellt das Thema NS-Gesetze, Neofaschismus in der BRD und die freundschaftlichen Beziehungen der BRD zu international anerkannten Gangster-Regimen ein unvergleichlich gewichtigeres Problem dar, als irgendwelche anderen politischen Themen, mit denen ich mich in den letzten Jahren beschäftigt habe, auch wenn diese Arbeiten auf die eine oder andere Weise dieses Thema zuweilen berühren (vergl. Werksverzeichnis Nr. 67,75, 92, 93, 94, 95, 96, 99, 102, 103, 1049 100, 115, 122, 123, 126, 128, 129).

...





Chronik des Verfahrens gegen das „Deutsche Notstandschwein“

1965/66 H.P. Alvermann liefert seinen Beitrag zur Antinotstandskampagne in Form eines mit den Farben schwarz-rot-gold bemalten Plastikschweins, das auf seinem Rücken im roten Feld einen weißen Kreis und Hakenkreuz genau über dem Geldschlitz, trägt auf seinem Bauch einen Zettel mit dem Text: „Wenn ich fett und vollgefressen bin, muß ich geschlachtet werden.“ Das Kunstobjekt trägt den Titel „Deutsches Notstandschwein“ und wird zunächst in begrenzter, nummerierter Auflage und später wegen der unerwartet regen Nachfrage in unbegrenzter Höhe hergestellt.

21. 4. 67

Erste Beschlagnahme von 15 Notstandschweinen in der Galerie Tobies & Silex in Köln.Die nächsten 12 Monate werden von der Kripo bei verschiedenen Galerien, Museumsleuten, Kritikern und Sammlern in der ganzen Bundesrepublik Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen der Objekte durchgeführt.


2. 10. 68 Dienstaufsichtsbeschwerde beim Justizminister des Landes NRW gegen den ermittlungsführenden Staatsanwalt wegen Verschleppung des Verfahrens. Die Beschwerde wird abgelehnt.

18. 11. 68 Erhebung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft Düsseldorf auf Einziehung der „Notstandsschweine“ wegen Verunglimpfung der Hoheitszeichen der Bundesrepublik Deutschland und der Verbreitung verbotener Kennzeichen. Das Verfahren soll aufgrund des Gesetzes über die Straffreiheit vom 9.7.68 als sogen. „ selbstständiges Verfahren“ geführt werden.

3./5. und 10. 12. 68

Beschlagnahme von weiteren 59 Notstandschweinen auf der sogen. „Großen Düsseldorfer Weihnachtsausstellung“ sowie aufgrund neuerlicher Hausdurchsuchungen in der Wohnung und dem Atelier Alvermanns

12. 12. 68 Beschwerde des Verteidigers von Alvermann RA, Lohmann, gegen die Beschlagnahme und Antrag auf Aufhebung.

23. 12. 68 Ablehnung der Beschwerde durch das Landgericht Düsseldorf da „durch den Grundsatz der Freiheit der Kunst (Art.5 Abs. III GG) … die Handlung nicht gedeckt“ wird.

28. 3. 69 Beschlagnahme von drei weiteren Schweinen in der Kölner Galerie „art intermedia“ durch die Kripo obgleich kein Beschlagnahmebeschluß des zuständigen Kölner Landgerichts vorlag, und Übergabe der Objekte an die Staatsanwaltschaft Düsseldorf, die für die Beschlagnahme in Köln nicht zuständig ist. Auf entsprechende Beschwerde sieht sich die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft gezwungen, die Tierchen wieder herauszurücken, von denen dann am

25. 4. 69 das letzte, übrig gebliebene in Köln beschlagnahmt wird, „weil der beschlagnahmte Gegenstand als Beweismittel“(unter ca. hundert mittlerweile beschlagnahmten gleichartigen! d. Verf.) „ für die Untersuchung von Bedeutung ist“. Beschwerde des Anwalts der Galerie gegen die Beschlagnahme und Antrag auf einstweiligen Beschluß zwecks Aufhebung der Beschlagnahmung.

6. 6. 69 Ablehnung der Beschwerde durch das Kölner Landgericht. „Nach Meinung der Kammer ist ein serienmäßig aus Plastik hergestelltes Sparschwein, das in vielen Exemplaren und in einfachster Form mit Farben bemalt wird und danach weiter als Sparschwein verwendet werden kann und werden soll, kein Kunstwerk. Selbst wenn man das bemalte Plastikschwein im vorliegenden Fall als Kunstwerk ansehen würde, so würde auch der in der Verfassung garantierte Grundsatz der Freiheit der Kunst der Beschlagnahmung nicht entgegenstehen.“

16. 10. 69

Urteil des Landgerichts Düsseldorf, in dem eine Verwendung der Kennzeichen verbotener Organisationen (Hakenkreuz) im Sinne des Gesetzes beim „Deutschen Notstandschwein“ nicht gegeben angesehen wird, wohl aber eine Verunglimpfung der Farben der Bundesrepublik. Das Gericht macht jedoch in Abwägung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit von seinem Ermessen Gebrauch, indem es die Beschlagnahme aufhebt, da „auch in der Einziehung der Objekte … eine Überbetonung ihrer Bedeutung liegen kann, die in keinem Verhältnis zu der möglicherweise auftretenden Gefährdung liegt.“ Zur Beurteilung der Staatsgefährdung der Tierchen legt das Gericht – in bester Großdeutscher Tradition – seine vorgefaßte Meinung von der „Auffassungsmöglichkeit eines Durchschnittsbürgers“ als Maßstab an.

Der Staatsanwalt legt Revision gegen das Urteil ein.


29. 5. 70

Urteil des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe: Der Revision des Staatsanwaltes wird stattgegeben und das Verfahren zur erneuten Verhandlung an das Landgericht in Köln zurückverwiesen.

Der BGH sieht in den Objekten nicht nur eine Verunglimpfung der Farben der BRD sondern auch eine verbotene Verbreitung der Kennzeichen verbotener Organisationen. Er sieht durch die Tierchen „ die friedliche Ordnung des politischen Lebens“ in der Bundesrepublik gefährdet. (Und das trotz der Tatsache, daß mindestens noch dreimal so viele Schweinchen, die die verhafteten frei in der BRD und im Ausland herumlaufen, ohne daß man je in der Zeitung von einem durch sie gestörten politischen Frieden gehört hätte.).


1. 3. 71 Erstellung der Anklageschrift für ein zweites, weiteres Verfahren, in dem auch die persönliche Beteiligung Alvermanns an der Herstellung und dem Vertrieb der „Notstandsschweine“ sowie die Mitwirkung der Galerie abgeurteilt werden soll. Aus dem Einziehungsverfahren der Schweine soll ein Einziehungsverfahren des Künstlers gemacht werden.

2. 3. 71

Verkündung des Termins für die vom BGH neuerlich an die erste Instanz zurückverwiesene Verhandlung im Einziehungsverfahren für den 15. Juli 1971 um 9:15 vor der 1. großen Strafkammer des Landgerichts in Köln, Apellhofplatz 1


Verfasser der Chronik : H. P. Alvermann   1971 zur Vorlage bei der Presse


Weitere Daten aus den weiteren Prozessunterlagen  von H.P. Alvermann

15. Juli 1971 Vom Landgericht Köln wurde für Recht erkannt, dass die Einziehung rechtmäßig ist . (Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole)

13. und 17. 4. 1972 Beschäftigt sich das Landgericht Düsseldorf in der Strafsache gegen den Künstler H.P. Alvermann und den Galeriebesitzer Rywelski , Köln

26. Juni 1974

Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe hebt das Urteil des Landgerichtes in Köln vom 15. Juli 71 auf. Auf dieses Urteil wird später in anderen Prozessen zur Freiheit der Kunst zurückgegriffen.
„.. für einen etwaigen Vermögensschaden der aus der Sicherstellung erwachsen ist …“ ist zu entschädigen.


Weitere Jahre des Rechtsstreits

Trotz vielfältiger Gutachten und Stellungnahmen wurde keine Entschädigung gezahlt!!